“In der Stunde wilder Ausgelassenheit, wo jede Leidenschaft entflammt und jede Zügel entfernt war, […] wurde ein grausames Gemetzel unter den Römern angerichtet […], und die Straßen der Stadt waren mit Leichen bedeckt.” Dies ist ein Zitat aus “History of the Decline and Fall of the Roman Empire” von Edward Gibbon (1737-1794), dem bedeutendsten britischen Historiker der Aufklärung. Das sechsbändige Monumentalwerk umfasst den Zeitraum von der Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus bis zur Einnahme Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453. Das Zitat beschreibt die Exzesse, die die Westgoten unter ihrem Heerkönig Alarich im Jahre 410 n. Chr. anrichteten, als sie Rom drei Tage lang plünderten. Gibbon begnügt sich nicht mit der Beschreibung der Massaker. Er will den Ursachen auf den Grund gehen, warum ein wildes Reitervolk ein bislang militärisch hocheffektives Imperium kläglich zu Fall bringen konnte. Er schildert ausführlich den Sittenverfall, der sich vor allem in der Hauptstadt des Reiches, in Rom, ausgebreitet habe. Brot und Spiele und ein üppiges Luxusleben hätten die Moral geschwächt und die Widerstandskraft vor allem der Eliten gelähmt.
Seit der Dschihad das westliche Europa als Kampffeld auserkoren hat, werden immer wieder Parallelen zum Untergang des Römischen Reiches gezogen. Ein beredter Verfechter dieser Analogiethese ist der Harvard-Professor Niall Ferguson. In zahlreichen Aufsätzen und Büchern hat er davor gewarnt, dass “überzeugte Monotheisten” (er meint damit den Islam) “für ein säkulares Reich eine ernsthafte Bedrohung” seien. Es ist unschwer zu erkennen, dass er mit dem gefährdeten Reich Europa meint. Amerika sieht er weniger dem Untergang geweiht, weil dort die Stärke des Christentums noch eine ausreichende Wehrhaftigkeit bedinge. Wenn man sich das Gebaren der Evangelikalen in den USA anschaut, ist das ein zweifelhaftes Argument.
Es braucht nicht viel Sachverstand, um in den düsteren Visionen eines Ferguson Panikmache zu erkennen. Die Terrorgefahr ist zwar keineswegs gebannt, und sie kann auch noch zunehmen. Der militante Islam wird Europa jedoch nicht in die Knie zwingen. Die Gefährdung unserer europäischen Zivilisation droht durch die Lernunfähigkeit unserer Eliten, die dabei allerdings eine bequeme Koalition mit ihren Völkern eingegangen sind. Der Wohlstand der europäischen Länder ist in Gefahr, wenn die Regierungen (und auch die EU) die Gefahren, die ihm drohen, nicht erkennen und wenn sie nicht bald gegensteuern, auch auf die Gefahr hin, sich beim Wahlvolk unbeliebt zu machen.
Die Geburtenraten in Europa kennen seit Jahren nur eine Richtung: nach unten. In Europa werden im Schnitt pro 1.000 Menschen nur noch 10,4 Kinder geboren. Noch unter dieser Rate liegen Portugal (8,5), Griechenland und Italien (beide 9,0) und als Schlusslicht Deutschland (8,4). Besser sieht es in Großbritannien (12,8) und Frankreich (12,6) aus. Da die Sterberate durchweg höher liegt (Italien: 9,8, Deutschland: 10,8) schrumpft die Bevölkerung kontinuierlich. Alle sozialen Sicherheitssysteme, die nach dem Umlageverfahren funktionieren (die Jungen erwirtschaften über ihre Beiträge die Leistungen für die Alten) sind deshalb schon mittelfristig auf Sand gebaut. In Deutschland werden 2010 schon 34 Rentner auf 100 Erwerbstätige kommen (1990 waren es nur 24), 2030 werden es schon 50 sein. Zwei Erwerbstätige müssen dann durch ihre Beiträge einen Rentner finanzieren.
Nach der derzeit geltenden Rentenformel wird das Rentenniveau im Jahre 2030 nur noch 45% des Durchschnittseinkommens betragen. Die frisch entflammte Diskussion über Altersarmut reflektiert allerdings nur das niedrige Rentenniveau von 45%, nicht aber das künftige Zahlenverhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentnern. Wenn sich SPD und CSU durchsetzen und die Rentenformel “kippen”, um die Rente beim heutigen Satz von 48% einzufrieren, wird dies zu Lasten der jungen Generation gehen, deren Beiträge in die Rentenkasse bis 2025 von gegenwärtig 18,7% auf 20,2% steigen müssten. Bis 2040 würde der Beitragssatz sogar auf 22,7% steigen. Damit wäre nicht nur der mühsam ausgehandelte Generationenvertrag Makulatur. Es würden auch gefährliche Risiken für den Arbeitsmarkt eingegangen. Denn jedes Prozent höherer Sozialabgaben kostet 100.000 Arbeitsplätze. Diese Menschen ohne Job fehlten dann als Beitragszahler. Damit käme genau der Teufelskreis wieder in Gang, der im Jahre 2000 die damalige rot-grüne Bundesregierung dazu veranlasst hat, den Nachhaltigkeitsfaktor einzuführen, der heute noch gilt und der die demografischen Kosten einigermaßen gerecht auf alle Generationen verteilt.
Die Alternative wäre, die Kosten für das Einfrieren des Rentenniveaus aus dem Bundeshaushalt zu bezahlen, also den Steuerzahler insgesamt zu belasten. Dabei schlägt jedes Rentenprozent mit sechs Milliarden Euro Steuergeld zu Buche. Der ausgeglichene Haushalt und die Schuldenbremse wären dann nicht mehr zu halten und das fatale Prinzip der Vergangenheit kehrte zurück: Heute genießen, morgen bezahlen.
Nach dieser Devise wird inzwischen in ganz Europa Politik gemacht. Die Verschuldungsquote wichtiger europäischer Länder verharrt immer noch weit über der vom Maastricht-Vertrag vorgegebenen Marke von 60% des BIP: Italien: 133%, Spanien: 100%, Portugal 126%, Frankreich: 96% (Bericht der EU-Kommission vom 3. 5. 2016). Deutschland hat die Verschuldungsspirale immerhin unterbrochen und legt seit zwei Jahren einen ausgeglichenen Haushalt vor. Ein hoffnungsloser Fall ist Griechenland mit 183%. In den 1960er Jahren betrug die durchschnittliche Staatsschuld in Europa sagenhafte 20%. An der Differenz zu heute kann man ermessen, wie sehr die Europäer auf Pump gelebt haben, in welchem Maße ihr Wohlstand von den kommenden Generationen geborgt ist. Keines der genannten Länder macht ernsthafte Anstalten, die Verschuldung zu stoppen. Immer neue Begründungen werden ins Feld geführt, wenn neue Staatsschulden aufgenommen werden. So pocht Frankreich auf Ausnahmen, weil es durch die Flüchtlingskrise besonders belastet sei. Dabei hat Frankreich von dem Flüchtlingsstrom aus Syrien im Jahre 2015 gerade mal so viele Menschen aufgenommen wie bei uns ein Bundesland wie Mecklenburg-Vorpommern allein. Und die willfährige Kommission der EU winkt alle Ausnahmebegehren durch. Auch Italien, das bislang die Flüchtlinge in den Norden Europas durchgewinkt hat, pocht auf den Flüchtlingsbonus.
Die Verschuldung der europäischen Länder wäre nicht so problematisch, wenn mit dem geborgten Geld in die Zukunft investiert würde, in Forschung, Bildung und Infrastruktur. Das Geld geht jedoch überwiegend in den Konsum, vor allem um sich das launische Wahlvolk gewogen zu halten. Die portugiesische Linksregierung hat nach ihrem Machtantritt sofort die Schuldenquote erhöht und damit überwiegend konsumtive Ausgaben getätigt. Die spanischen Linksparteien haben dieselbe Politik für den Fall in Aussicht gestellt, dass sie die Wiederholungswahl im Juni 2016 gewinnen. Schulden sind solange akzeptabel, wie sie die materiellen Grundlagen eines Staatswesens verbessern, von denen auch noch die nächsten Generationen zehren können. Sie sind aber von Übel, wenn sie nur dazu dienen, der jetzigen Generation ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Im privaten Leben kann man ein Erbe ausschlagen, wenn es mit hohen Schulden verbunden ist. Da man dies als Staatsbürger nicht kann, sollte es zur Fürsorgepflicht eines Staates gehören, den nachfolgenden Generationen nicht Lasten aufzubürden, die sie freiwillig nie auf sich genommen hätten.
Die ökonomische Wissenschaft weiß seit langem um die Korrelation zwischen Wirtschaftswachstum und Staatsverschuldung. Wenn letztere einen bestimmen Wert übersteigt, nimmt das Wirtschaftswachstum ab, weil die Akteure auf dem Markt das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Regierung verlieren. Die Zinslasten der deutschen Bundesschuld betragen zur Zeit 25,2 Milliarden €. Dem gegenüber belaufen sich die Ausgaben für Wissenschaft, Forschung und Bildung nur auf 16,4 Milliarden €. Selbst ein Laie kann sich vorstellen, welches Bildungsfeuerwerk man zünden könnte, wenn die unproduktiven Schuldzinsen für Bildungsinvestitionen ausgegeben werden könnten. Nicht ausmalen möchte man sich, welche Einschnitte in Leistungsgesetze nötig wären, wenn die Schuldzinsen wieder auf ein historisch durchschnittliches Niveau anstiegen.
Das Wachstum der europäischen Volkswirtschaften kommt über den mäßigen Durchschnittswert von 1,6% nicht hinaus. Besonders alarmierend ist, dass in den europäischen Ökonomien kein nennenswerter Produktivitätsfortschritt mehr erzielt wird, was für eine dynamische Entwicklung der Wirtschaft unverzichtbar wäre. Keines der wichtigen europäischen Krisenländer hat Wirtschaft und Verwaltung bisher so reformiert, dass eine wirtschaftliche Dynamik entstanden wäre. Eine lobenswerte Ausnahme ist die Reform des Regierungssystems in Italien. Auf dem Felde der Wirtschaft gibt es allenfalls Tippelschritte. In Frankreich kämpfen Hunderttausende Jugendlicher gegen eine Reform des Arbeitsrechts, die ihnen zugutekommen würde, wenn sie selbst auf den Arbeitsmarkt treten. Sie handeln nach der Devise: Lieber keine Arbeit als eine unsichere. Und die schwache Regierung von Francoise Hollande zuckt bei jeder Regung der Straße zurück.
Den Widerstand gegen die beiden Freihandelsabkommen CETA (EU-Kanada) und TTIP (EU-USA) kann man nur noch als irrational bezeichnen. Lautstarke kapitalismuskritische Gruppen trommeln dagegen und bezeichnen die Abkommen als Instrumente zur Durchsetzung amerikanischer Konzerninteressen. Die kanadische Handelsministerin Chrystia Freeland zeigte sich verärgert über diese Ignoranz. Sie sagte: “In den letzten dreißig Jahren haben die Globalisierung und der Welthandel mehr für die Armutsbekämpfung getan als jedes Entwicklungsprogramm.” (FAZ vom 16. 04. 2016) Die Ministerin rechnete vor, dass allein das CETA-Abkommen für den deutschen Handel einen enormen Schub bedeuten würde. Die Zölle, die jetzt noch auf technische Güter wie Autos und Maschinen erhoben werden und zwischen 6,5% und 9,5% betragen, würden auf 0% sinken. Wenn man weiß, dass jeder 4. Arbeitsplatz in Deutschland vom Export abhängt, kann man ermessen, welche Vorteile das TTIP-Abkommen für die deutsche Wirtschaft böte. Auf solche Wohlstandsgewinne aus ideologischen Gründen zu verzichten, grenzt deshalb an ökonomische Fahrlässigkeit.
Hier ergibt sich vielleicht doch eine Parallele zur schleichenden Dekadenz der spätrömischen Gesellschaft. In unserer Gesellschaft gibt es zu viele Lobby-Gruppen, die ihre Partikularinteressen lautstark für das Gemeinwohl ausgeben. Allerorten hört man davon, dass Bürgerinitiativen Bauvorhaben verzögert oder ganz verhindert haben. Selbst der dringend nötige Wohnungsbau in den Ballungszentren wird von Pressure-Groups der Anwohnern verhindert. In Schwaben werden aus Italien eingewanderte Zauneidechsen mit hohem finanziellen Aufwand von der neuen Bahntrasse Stuttgart – Ulm in ein neues Biotop umgesiedelt. Der Kampf um die Erhaltung der Bäume im Stuttgarter Stadtpark zur Rettung der Juchtenkäfer gewann traurige Berühmtheit. Wir klagen auf hohem Niveau und verbeißen uns in Konflikte, die so nebensächlich sind, dass es fast schon komisch wirkt. Was in unserem Land wirklich zu tun wäre, um die Grundlagen für Prosperiät und finanzielle Nachhaltigkeit zu stärken, gerät dabei völlig aus dem Blick.
Einer der klügsten grünen Politiker, der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks, beschreibt den Zustand Europas so: “Europa ist heute der zukunftsängstliche Kontinent. Nirgendwo ist die Überzeugung so verbreitet, dass die goldenen Jahre der Vergangenheit angehören. Wir fürchten uns vor allem: vor Globalisierung und Freihandel, digitaler Revolution und Gentechnik, Masseneinwanderung und Islamisierung, Terror und totaler Überwachung. Die Wachstumsdynamik ist gering, die Jugendarbeitslosigkeit in vielen Staaten dramatisch.” (FAZ, vom 18. 04. 2016)
Es ist mit Händen zu greifen, dass im schrumpfenden Europa das Wohlstandsversprechen für alle nicht mehr eingelöst werden kann, wenn sich die Regierungen nicht bald auf das Wesentliche besinnen. Wenn nicht in die Zukunft investiert wird, werden wir die Zukunft verlieren. Wenn die jetzige Generation nicht aufhört, auf Kosten der nachfolgenden Generationen, die vermutlich ärmer sein werden als die gegenwärtige, zu leben, werden Verteilungskämpfe ausbrechen, gegen die unsere heutigen Tarifkämpfe laue Lüftchen sind. Der Gipfel des Widersinns liegt darin, dass nur wenige Staaten in Europa die “Blutzufuhr”, die der Flüchtlingsstrom bietet, als Chance begreifen. Die vielen “hungrigen” und motivierten jungen Menschen täten den erstarrten europäischen Gesellschaften gut. Sich gegenüber Zuwanderung abzuschotten, um das Eigene zu bewahren, wird über kurz oder lang dazu führen, dass das Eigene in den Händen der autochthonen Völker zerbröselt.